Die verhinderte Trauer

Beim Versuch, Depressionen zu verstehen und den Kranken zu helfen, heißt die wichtigste Frage nicht „Woher?“, sondern „Wozu?“

Weder migränig noch depressiv

Kennen Sie jemanden, der heuschnupfig ist? Oder migränig? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, denn Heuschnupfen und Migräne sind weit verbreitet. Trotzdem bezeichnet niemand andere als „heuschnupfig“ oder „migränig“. Die geläufige Formulierung heißt: „Er hat Heuschnupfen.“ Oder: „Sie leidet unter Migräne.“ Vielleicht setzt der eine oder die andere manchmal ein Fragezeichen dahinter: Vielleicht will die Frau nur ihre Ruhe haben? Man sieht die Migräne ja nicht! Trotzdem: Das Wort „migränig“ würde fast jeden irritieren.

Wahrscheinlich kennen Sie auch jemand, der an Depressionen leidet. Die Zahl dieser Erkrankungen hat in den vergangenen Jahren zugenommen; zumindest wurden sie häufiger diagnostiziert. Ähnlich wie bei der Diagnose „Migräne“: Man sieht von außen nichts. Anders als bei der Migräne haftet der Depression aber ein negativer Beigeschmack an; sie hat etwas mit Psychiatrie zu tun, und das klingt nach „verrückt“ und „Irrenanstalt“. Deshalb wird sie noch immer gerne verschwiegen und versteckt. Und noch ein Unterschied zur Migräne: So wenig wir „migränig“ sagen, so selbstverständlich sprechen wir von „depressiven“ Menschen.

Ist diese Beobachtung wichtig? Ändert sich etwas, wenn wir stattdessen sagen: Jemand leidet unter oder an einer Depression? So wie jemand an Heuschnupfen oder Migräne leidet, Heuschnupfen oder Migräne hat, aber weder heuschnupfig noch migränig ist?
Ja, es ändert sich etwas. Der Umgang mit der Krankheit und vor allem mit den Menschen, die daran leiden, wird zumindest anders, wahrscheinlich angemessener und hilfreicher.
Die verschiedenen Fächer der Humanwissenschaften haben in den vergangenen Jahren viele Hinweise und Einsichten geliefert, die zu einer differenzierten Sicht von Depression führen. Vor allem gerät mehr und mehr in den Blick, dass eine Depression eine vielschichtige „Reaktion“ eines Menschen aus Leib und Seele ist.

Die rückwärts gerichtete Frage nach dem „Woher“ greift zu kurz

Jeder kennt Phasen, in denen er „nicht so gut drauf“ ist; er ist „mit dem linken Fuß aus dem Bett gestiegen“, „hat einen Durchhänger“. Manche sagen auch „deprimiert“. Das klingt so ähnlich wie „depressiv“; oft mag das äußere Erscheinungsbild auch dem einer Depression ähneln. Doch Vorsicht: Ähnlichkeit heißt eben nur Ähnlichkeit und nicht Gleichheit. Die hohe Zahl an Suiziden dokumentiert, dass eine Depression – auch wenn es Grade gibt und die Diagnose nicht immer leicht fällt – eine andere Qualität hat als diese vorübergehende Verstimmung oder Antriebsmüdigkeit. Wer „nur“ einen Durchhänger hat, kann sich „zusammenreißen“, sich aufrappeln, den „inneren Schweinehund“ überwinden. Viele kennen das aus eigenem Erleben. Diese Erfahrung auf Menschen zu übertragen, die an Depressionen leiden, bewirkt jedoch möglicherweise das genaue Gegenteil: Diesen Menschen hilft ein aufmunterndes Wort nicht nur nicht, oft verschärft es sogar ihr Leid. Ein „Es-wird-schon-wieder“ und ähnliche gut gemeinte Ermutigungen wirken kontraproduktiv, vielleicht ironisch oder sogar zynisch. Die Kranken fühlen sich dadurch nur noch unverstandener, isolierter, hilfloser. Denn die Depression verändert ihre Wahrnehmungsfähigkeit und Handlungsfähigkeit sowohl im Blick auf die Welt als auch im Blick auf sich selbst.

Die Fachwelt ist sich heute weitgehend einig: Die rückwärts gerichtete Frage nach dem Woher, nach der (Wirk-)Ursache einer Depression greift zu kurz. Hatten Experten noch vor 15, 20 Jahren Wert auf die Unterscheidung gelegt, ob eine Depression zum Beispiel „endogen“, „reaktiv“ oder „neurotisch“ sei, so steht heute mehr die Frage im Mittelpunkt: Welche Aufgabe, welchen Sinn könnte die Depression für das Leben des Betroffenen haben?

Welche „Funktion“ hat die Depression

Zum Vergleich: Auch Fieber, tränende Augen oder ein Hustenreiz verursachen ein Leiden; aber das ist ein heilendes, helfendes Leiden. Die Einsicht in die Funktion dieser Schutzsymptome will sie keineswegs bagatellisieren; hohes Fieber zum Beispiel bekämpfen wir trotzdem, weil es lebensbedrohlich werden könnte. Ähnlich lassen sich auch Depressionen verstehen und deuten: als „Funktionen“, die der Abwehr dienen können, dem Schutz, der Lösung existentieller Probleme. Andere formulieren das etwas anders: Sie beschreiben Depressionen als Versuch einer Anpassung an eine neue, unerwartete Entwicklung oder als Versuch einer Reparatur eines nicht mehr stimmigen Systems. Auch das bedeutet keine Bagatellisierung; je ausgeprägter eine Depression sich entwickelt, desto mehr stellt die Frage, ob der vermeintliche Schutz (ähnlich wie das gefährlich hohe Fieber) „angemessen“ ist. Bei einem Suizid wird sicherlich jeder von einem unangepassten „Schutz“, einer misslungenen Reparatur sprechen. Doch diese Fehlentwicklung darf den Blick für diese Deutung nicht von vornherein verstellen.

Die „verhinderte Trauer“

Die Zusammenschau medizinisch-biologischer, sozialer und psychologischer Betrachtungsweisen geht noch weiter. Sie versucht die Situationen zu beschreiben, in denen Depressionen „schützen“, „anpassen“ oder „reparieren“ sollen. Die auffälligste Spur, die sich dabei abzeichnet: Depression könnte etwas mit Trauer und Verlust zu tun haben. Denn gerade nach Verlustsituationen scheinen sich überdurchschnittlich viele Depressionen zu entwickeln; außerdem nimmt deren Zahl im Alter zu, wenn es immer mehr zu betrauern gibt. Allerdings ist Depression nicht zu verwechseln mit besonders tiefer Trauer. Im Gegenteil: Wo wirkliche Trauerarbeit geleistet wird, so schwer sie auch sein mag, bleibt für eine Depression kein Platz. Depression und Trauer sind zwei unterschiedliche Weisen, auf die gleiche Herausforderung zu reagieren. Die Beobachtung, dass sich manche Depressionen gar nicht so „depressiv“ zeigen, dass dazu auch Wut, Zorn, Angst, Schuldgefühle gehören können, passt durchaus in dieses Bild. Denn diese Gefühle finden sich auch in Trauerprozessen, die ja auch nicht alle „traurig“ aussehen. So lässt sich Depression also geradezu als „verhinderte Trauer“ beschreiben. Die Formulierung impliziert, dass jemand gerade nicht trauern kann – warum auch immer.

Ein Leiden wie das Fieber

Einsichten der Biologie und Medizin legen die Vermutung nahe, dass dabei neurochemische Prozesse eine Rolle spielen; konkret: Botenstoffe, so genannte Neuro-Transmitter, die für Übertragungen von Reizen zwischen Nervenzellen sorgen. Deshalb erscheint in vielen, vor allem in schweren Fällen eine medikamentöse Unterstützung einer Therapie hilfreich oder gar geboten. Eine umfassende Deutung der Depression fragt jedoch weiter: Welche Bedeutung, welchen Sinn hat es oder kann es haben, dass Trauer jetzt nicht möglich ist? Die Betonung liegt auf „jetzt“: Jetzt hat jemand eine Depression; aber er ist nicht mit ihr identisch (so wenig wie jemand heuschnupfig oder migränig ist). Er kann außer der Depression noch mehr haben und vor allem: Er kann die Depression irgendwann einmal nicht mehr haben. Eine isolierte neurochemische Betrachtungsweise kommt hier an ihre Grenzen: Die Disposition zur Depression mag erhalten bleiben – aber das heißt nicht, dass jemand immer eine Depression hat, also vom Wesen her depressiv ist.

Eine bloße neurochemische Korrektur, eine medikamentöse Behandlung allein wird deshalb der Vielschichtigkeit der Depression nicht gerecht. Sie würde die „verhinderte Trauer“ ihrerseits nur verhindern und unterdrücken. Der angemessenere Weg, die Funktion der Depression wahr- und ernst zu nehmen, müsste stattdessen die Hintergründe einer „verhinderten Trauer“ ausleuchten und in kleinen, machbaren Schritten einer Lösung zuführen.

Die Krankheit der Losigkeit

Den Ansatz dazu bietet die Beobachtung, dass viele Depressionen sich in Situationen entwickeln, in denen andere Menschen Trauer zeigen: bei Todesfällen und Verlusten. „Verlust“ kann dabei sehr vieles bedeuten: Der Tod eines wichtigen Menschen und der Verlust des Arbeitsplatzes gehören ebenso dazu wie der „Verlust des Glaubens“ oder die Erkenntnis, dass Wertvorstellungen nicht tragfähig sind, dass Autonomie- oder Kontrollbedürfnisse im Alltag nicht eingeholt werden können, dass ich die eigene Leistungsfähigkeit überschätzt hatte und also Abschied nehmen muss von einem Bild, an dem ich mich jahrelang orientierte und das Sicherheit gab. Das alles sind Situationen, in denen Menschen statt mit Trauer mit einer Depression reagieren können. Ihr gemeinsamer Nenner ist: Es sind keine Kleinigkeiten. Sie haben eine große Bedeutung für den Lebensentwurf von Menschen, betreffen sie existentiell. Und: Es gibt keinen objektiven Maßstab. Was jeweils eine existentielle Bedeutung hat, ist mit der Geschichte und dem Erleben eines Menschen untrennbar verwoben; niemand darf sich anmaßen, das beurteilen zu können. Im Übrigen lässt die Zunahme von Depressionen im Alter vermuten, dass es auch Kumulationen von Verlusten gibt: Hier ein Todesfall, da die Einsicht, bestimmte Leistungen nicht mehr selbst erbringen zu können, dann auch noch der Umzug aus der gewohnten Umgebung in ein Altenheim: Die Zusammenschau kann erdrücken.

Was könnte dir heute gut tun?

Ein Trauernder setzt sich mit diesen erlittenen Verlusten auseinander, er akzeptiert sie und integriert sie in sein Leben. Das ist häufig mit Schmerz und viel Dynamik verbunden, ein Auf und Ab. Aber der Trauernde tut etwas, und wenn er „nur“ die Schmerzen wahrnimmt und sie erleidet.

Anders ein Mensch in einer Depression: Er bleibt zunächst in der Vergangenheit; der Verlust wäre so groß, dass seine Annahme einer Überforderung gleichkäme. Momentan kann er nicht bewältigt werden. Der, die oder das Verlorene wird so geklammert, dass alle Lebensenergie abgezogen wird; es geht zunächst einmal um das nackte Überleben. Entsprechend wird auch die Gefühlswelt abgeschaltet. In der Depression erleben Menschen gerade nichts. Manche sprechen von „dunkel“ oder „schwarz“, von einer „großen Leere“, von einem „Berg“. Viele erstarren in Untätigkeit und Ohnmacht. Im Nachhinein beschreiben viele diesen Zustand als „Losigkeiten“: mutlos, hoffnungslos, antriebslos, kraftlos, freudlos, leblos … Die Betroffenen erwecken Mitleid, aber zugleich vermitteln sie nicht, dass sie leiden. Sie sind – wie einer im Rückblick sagt – „tot und wissen, dass sie tot sind.“

Eine Depression ist also weit mehr als „nur“ ein Defekt, ein Fehlen oder ein Fehler. Vielmehr haben Depressionen eine Funktion; sie schützen, schaffen einen Freiraum, um eine Zeit für eine Auseinandersetzung mit einem Verlust vorzubereiten. Vielleicht formulieren sie auch einen Appell: Lasst mich in Ruhe mit euren Anliegen und Problemen, die für mich in meiner Situation nichtig sind.

Aber was folgt daraus für einen hilfreichen Umgang mit den Betroffenen?

  • Es ist nicht angebracht, von einem depressiven Menschen zu sprechen. Die Gefahr einer Festlegung und „Chronifizierung“ ist sehr groß. Angemessener ist es zu sagen: Jemand hat eine Depression, so wie er auch Fieber, Migräne oder Heuschnupfen haben kann.
  • •Weil Menschen in ihrer Depression nur eingeschränkt wahrnehmungs- und handlungsfähig sind, müssen sie weder eine Einsicht haben noch aktiv gegen ihre Passivität ankämpfen. Sie müssen nichts müssen.
  • An ihrer Stelle dürfen aber Partner, Angehörige, Freunde. Sie dürfen vorübergehend das Gute und Lebenswerte, was die Betroffenen nicht sehen können, beherbergen, verwalten und immer wieder ansprechen.
  • Je nach Vertrautheit mit dem Menschen kann und dürfen seine Nächsten vorsichtige Angebote machen, den Verlust aufzuspüren. Allerdings: Vielleicht hat der Verlust ja mit ihnen selbst zu tun. Deshalb dürfen sie mit Vertrauen und Hoffnung andere – Seelsorger und Therapeuten – helfen lassen.
  • Was immer verlustig ging: Die Achtung vor dem anderen und seiner Würde verbietet ein Urteil darüber! Weder Ehepartner noch Kinder oder Eltern durchschauen ihren nächsten Angehörigen bis ins Herz. Wohl dürfen sie sagen, zu gegebener Zeit gar davon schwärmen, was sie außerdem noch wahrnehmen.
  • Weil Depression immer auch etwas mit Beziehungen zu tun hat, ist es hilfreich, wenn Partner und Freunde gut für sich sorgen. Mit-Leiden kann nicht heißen, sein Leben nicht mehr genießen zu dürfen.
  • Zur Depression und den „Losigkeiten“ gehört oft auch die Sprachlosigkeit. Daher können Familienangehörige und Freunde oft Souffleure sein; wenigstens können sie sich – nicht aufdrängend, fordernd, aber doch präsent  - erkundigen: Was könnte dir heute gut tun? Nur heute. Morgen ist ein anderer Tag. Und du bist ja nicht depressiv, du hast nur eine Depression, heute. Was morgen ist, sehen wir morgen.

Herbert Haber